
Das Leben mit Friedreich Ataxie
Ein Einblick von Jessy in ihre Geschichte mit dieser Genmutation
In Deutschland leben rund 1.500 Menschen mit der Seltenen Erkrankung Friedreich-Ataxie (Ataxie = Koordinationsstörung). Das ist eine genetisch bedingte, nicht heilbare Erkrankung des Nervensystems, welche zu einer Koordinationsstörung (=Ataxie) der Arme und Beine, aber auch Sprech- und Schluckmuskeln führen kann. Darüber hinaus können Hör- und Sehprobleme, Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen auftreten. Erste Anzeichen beginnen oft schon in der Kindheit oder im jungen Erwachsenenalter, zum Beispiel Unsicherheit beim Gehen oder häufiges Stolpern. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit dieser genetischen Veränderung geboren wird, liegt bei 1 zu 50.000.
Die Ursache der Erkrankung liegt in einem Fehler im Erbgut. Nur wenn ein Kind von beiden Eltern ein bestimmtes defektes Gen erbt, kann die Friedreich-Ataxie auftreten.
Die Krankheit betrifft das zentrale (Gehirn) und periphere (Rückenmark) Nervensystem und schränkt nach und nach die Koordination und Kraft der Patienten ein, sodass diese im Verlauf auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Entsprechend haben die Patienten orthopädische Begleiterscheinungen, wie eine Skoliose (Verkrümmung der Wirbelsäule) oder sogenannte Hohlfüße („Friedreich Fuß“). Auch das Herz kann betroffen sein, oft entsteht eine sogenannte Kardiomyopathie (Herzmuskel-Erkrankung).
In circa 10 % der Fälle wird zudem ein Diabetes mellitus diagnostiziert. Neben den körperlichen Symptomen können auch psychische Auswirkungen auftreten: Müdigkeit, Schlafstörungen, Depressionen und Angstzustände.
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Bei Jessy fing alles mit kaum sichtbaren Stolperern im Kindergarten an, als sie 4 Jahre alt war. Kleine Fehltritte, ein wackeliger Gang. Nichts, was man sofort als besorgniserregend einstufen würde. Da sich die Unsicherheiten beim Gehen jedoch mit der Zeit eher vermehrten statt wie erhofft zurückgingen und Jessy eine zunehmende Kraftminderung in beiden Beinen aufzeigte, stellte sich heraus: Da stimmt etwas nicht.
Es folgten Jahre voll von Arztbesuchen, Untersuchungen und zermürbender Ungewissheit. Zunächst konnten mit umfangreicher Diagnostik in der Kinderklinik DRK Westend Nervenschädigungen und eine Herzmuskelschwäche unklarer Ursache festgestellt werden. Im Verlauf von Jessys Krankheit kam es zu einer deutlich ausgeprägten Stand- und Gangataxie (Koordinationsstörung), welche durch beidseitige Hohlfüße noch verstärkt wurde.
Die Diagnose der Friedreich-Ataxie ist nicht leicht zu stellen. Die Frühsymptome wie Gangunsicherheit, Koordinationsprobleme oder undeutliche Sprache können allzu leicht mit anderen Erkrankungen verwechselt werden. Aufgrund der Seltenheit ist die Friedreich Ataxie nicht die wahrscheinlichste Verdachtsdiagnose bei Krankheitsbeginn. Mit den üblichen genetischen Tests, wie der Exomsequenzierung oder einem Testpanel, kann sie nicht erkannt werden. Stattdessen braucht es eine spezielle Untersuchung, bei der Wiederholungen in bestimmten Genabschnitten geprüft werden („Repeat-Untersuchung“). Wird diese nicht durchgeführt, kann die Friedreich-Ataxie leicht übersehen werden. Und es kann viel Zeit vergehen.
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Erst in Jessys 9. Lebensjahr konnte mit einer solchen Repeat-Untersuchung die Ursache für die oben beschriebenen Beschwerden "gefunden" und die Diagnose einer Friedreich-Ataxie gestellt werden. Ein Schock für die gesamte Familie, und dennoch sorgte sie nun für Klarheit. Endlich hatte das unbekannt Leid einen Namen. Und auch, wenn mit dieser Krankheit viel Ungewissheit verbunden ist: Von nun an konnte man aufhören zu suchen und beginnen, sich zu informieren, sich auf die Herausforderungen einzustellen und zu kämpfen.
Seit dem Jahr 2021 wird Jessy fortan in der Charité behandelt. Ihr Leben ist wesentlich bestimmt durch intensive Funktionstherapien, z.B. regelmäßige Anwendungen zur Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Und während noch vor wenigen Jahren weite Wanderungen mit der Familie kein Problem waren, so wurden der Rollstuhl und zahlreiche andere Hilfsmittel zur Unterstützung im Laufe der Zeit für Jessy unverzichtbar. Zudem leidet Jessy an Diabetes Mellitus, was die Überwachung des Insulinspiegels, die dosierte Injektion sowie eine gezielte Ernährung zu einem permanenten Bestandteil ihres Alltags macht.
Zwar ist seit 2024 das Medikament Omaveloxolon, welches das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen kann, als Therapie zugelassen, jedoch erst ab einem Alter von 16 Jahren. Jessy ist für die Behandlung leider zu jung und die Krankenkasse lehnte bisher eine Ausnahme ab. Weitere vier Jahre, in denen die Erkrankung weiter voranschreitet. Hoffnung macht die Aussicht auf den kurzfristigen Start einer neuen Studie für Kinder von 2-16 Jahren, von der Jessy profitieren könnte.
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Trotz ihrer Einschränkungen liebt Jessy alles, was actionreich ist und mit viel Bewegung zu tun hat. Zu ihren großen Leidenschaften gehört unter anderem die Tanzrichtung Hip-Hop. Zusammen mit ihrer großen Schwester und ihrem Papa geht sie in ihrem Rollstuhl ihrem Hobby nach und zusammen nehmen sie auch an Meisterschaften teil. Dafür nehmen sie durchaus weite Wege auf sich, oftmals mit der Bahn. Die An- und Abreise muss dabei sehr wohl durchgeplant werden. Barrieren in Form von Treppen, Fahrservice bei ausfallenden Fahrstühlen und Höhenunterschiede zwischen Bahnabteil und Bahnsteig sind nur einige Beispiele, welche bereits im Voraus berücksichtigt werden müssen. Dies gilt für alle Wege, die Jessy auf sich nimmt.
Insbesondere die Auswahl ihrer Schule war zwangsläufig verknüpft an die besonderen Inklusions-Bedürfnisse, welche mit ihrer Erkrankung einher und über den Rollstuhl weit hinaus gehen, z.B. in Form von Therapiemöglichkeiten. Und auch bei sich zuhause ist Jessy auf die Unterstützung durch gezielte Hilfsmittel angewiesen. Dazu gehören unter anderem ein elektrisch verstellbares Bett zur Vereinfachung des Ein- und Ausstiegs sowie ein besonderer Stehtrainer für Personen, die nicht selbständig stehen können. Er ermöglicht es, die Körperhaltung zu stabilisieren und das Stehen zu üben mit dem positiven Effekt, für eine signifikante Entlastung des Oberkörpers zu sorgen, welcher auf Dauer im Rollstuhl gestaucht wird. Ziel ist die Vermeidung von Folgeerkrankungen im Hinblick auf Knochendichte, Gelenke, Muskulatur, Verdauung, Atmung, Herz-Kreislauf-System und andere Körperfunktionen.
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Fragt man Jessy nach ihrem Herzenswunsch, so antwortet sie: „Einmal frei wie ein Vogel durch die Luft schweben, das wäre so toll!" Geradezu bildlich drückt dieser Wunsch ihre Sehnsucht nach Bewegung und Leichtigkeit aus.
Mit der Unterstützung von mehreren engagierten Menschen konnte Jessys Wunsch an einem sonnigen Tag im Juli 2025 erfüllt und bildlich festgehalten werden. Unsere tiefe Dankbarkeit gilt allen, die Jessy ein anhaltendes Strahlen auf das Gesicht gezaubert haben: Herrn Ortwin Loppien, Frau Gabriele Schneider, Frau Kathleen Funk, Herrn Viktor Vakka sowie der Norddeutschen Gleitschirmschule in Waren/ Vielist für das Erlebnis des Tandem-Gleitschirmflugs mit dem speziell entwickelten Flychair für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen.
Wir danken Jessy und ihrer Familie für den Mut und die Aufgeschlossenheit, die eigene persönliche Geschichte offen zu teilen und tiefe Einblicke in das eigene Leben mit so vielen Herausforderungen zu gewähren, um auf das Schicksal von Betroffenen aufmerksam zu machen. Das ist nicht selbstverständlich.